Thales von Milet gilt als Wegbereiter der Naturphilosophie. Ihm wird als einer der Sieben Weisen der Spruch Γνῶθι σαυτόν zugeschrieben, also die berühmte Inschrift aus Delphi: „Erkenne dich selbst!“. Er ist bekannt aus dem Mathematikunterricht (Text 5). 585 v. Chr. hat er eine Sonnenfinsternis vorausgesagt (1). Aber nicht nur als Gelehrter ist Thales bekannt geworden. Vielmehr widerlegte er sehr anschaulich, warum ein Philosoph nicht von selbst ein weltfremder Versager ist (2). Nach Aristoteles soll er als erster gelehrt haben, dass es einen einzigen (Monismus) Urstoff (ἀρχή) der Welt gebe; die Welt sei aus Materie entstanden, nämlich aus Wasser (τὸ ὕδωρ), und bestehe immer noch aus Wasser (3). Er begründet seine These mit empirischen Beobachtungen und spricht als erster in Abstraktionen. Götter, die in allem vorzufinden seien, sind für Thales wohl nur noch bildhafter Ausdruck für die Materie (Hylozoismus, 4).
Im folgenden stellen wir die wichtigsten Fragmente (Auszüge) aus der Lehre von Thales dar, die uns überliefert sind.
1. Voraussage einer Sonnenfinsternis (585 v. Chr.)
Als sie [die Lydier und Meder] mit gleichem Erfolg gegeneinander Krieg führten, geschah es im 6. Jahr, während sich ein Zusammenstoß ereignete und die Schlacht entbrannt war, dass der Tag plötzlich zur Nacht wurde. Diese Verwandlung des Tages hatte Thales aus Milet den Ioniern mit Bestimmtheit vorausgesagt, und zwar hatte er als Termin eben das Jahr [585 v. Chr.] angegeben, in dem dann die Verwandlung auch tatsächlich sich ereignete. Herodot I 74 (DK 11 A 5)
2. Weltfremdheit eines Philosophen
Als man ihm wegen seiner Armut einen Vorwurf machte, als ob die Philosophie zu nichts tauge, habe er, sagen sie, da er aufgrund seiner astronomischen Kenntnisse vorausgesehen hatte, daß die Olivenernte reichlich sein würde, noch im Winter mit dem wenigen Geld, das ihm zur Verfügung stand, als Handgeld, sämtliche Ölpressen in Milet und Chios für einen niedrigen Preis gemietet, wobei niemand ihn überbot. Als aber die Zeit [der Ernte] gekommen war und auf einmal und gleichzeitig viele Pressen verlangt wurden, da habe er seine Pressen so teuer verpachtet, wie er nur wollte, und auf diese Weise sehr viel Geld verdient: zum Beweis dafür, daß es für die Philosophen ein leichtes ist, reich zu werden, wenn sie dies wollen, daß es aber nicht das ist, was sie interessiert. Aristoteles, Pol. A 11, 1259a 9f. (DK 11 A 10)
Es wird erzählt, […] dass Thales, als er astronomische Beobachtungen anstellte und dabei nach oben blickte, in einen Brunnen gefallen sei und dass eine witzige, reizende thrakische Magd ihn verspottet habe: Er strenge sich an, die Dinge im Himmel zu erkennen, von dem aber, was ihm vor Augen und vor den Füßen liege, habe er keine Ahnung. Platon, Theait. 174a (DK 11 A 9)
3. Das Wasser als Urstoff, Empirismus, Materialismus
Thales, der Begründer dieser Art von Philosophie [in der nach Aristoteles, ein materieller Urgrund aller Dinge angesetzt wird], sagt, das Wasser sei Prinzip, weshalb er auch erklärte, die Erde sei auf dem Wasser. Wahrscheinlich begründete er diese Annahme damit, dass er beobachtete, die Nahrung aller Lebewesen sei feucht. Aristoteles, Metaph. A3, 983b 20f. (DK 11 A 12)
4. Pantheismus
Θαλῆς ᾠήθη πάντα πλήρη θεῶν εἶναι.
Thales glaubte, dass alles von Göttern voll sei. Aristoteles, De an. A5, 411a8f. (DK 11 A 22)
5. Mathematiker
Sie sagen, Thales habe als erster bewiesen, dass der Durchmesser den Kreis in zwei gleich große Hälften teile. Proklos in Eukl., S. 157,10f. (DK 11 A 20)
Es wird gesagt, er habe als erster gewusst und gesagt, dass in jedem gleichschenkligen Dreieck die Winkel an der Grundlinie gleich sind, wobei er in altertümlicher Weise die gleichen Winkel „gleichend“ nannte. Proklos in Eukl., S. 250,22f. (DK 11 A 20)
Zitate nach: Die Vorsokratiker. Griechisch/Deutsch. Reclam Stuttgart 1999.