Die Naturphilosophen des 6. Jahrhunderts v. Chr. in Ionien (Kleinasien) und Süditalien hatten mit ihrer rational-kritischen Denkweise begonnen, nach dem naturwissenschaftlichen Ursprung (ἀρχή) der Welt zu fragen. Thales von Milet zum Beispiel, der 585 eine Sonnenfinsternis voraussagen konnte, fasste den Urstoff der Welt als etwas Materielles auf: Die ἀρχή sei das Element Wasser (ὕδωρ), was er aus seinen Beobachtungen der Natur schloss, z.B. daraus, dass die Nahrung aller Lebewesen feucht sei. Sein Nachfolger Anaximander aber geht von einem abstrakten, göttlichen Anfang aller Dinge aus, dem Grenzenlosen (ἄπειρον). Dieses kann man sich nicht vorstellen, da es raum-, zeit-, qualitäts- und quantitätslos ist, man kann nur feststellen, was es nicht ist, nämlich begrenzt. Im nächsten Schritt – dieselbe via negativa beschreitend – nannte Xenophanes (ca. 570-475) die ἀρχή einen einzigen Gott, den man sich als absolut, transzendent und gestaltlos vorstellen müsse – im Gegensatz zu der traditionellen Religion der Griechen, die sich die olympischen zwölf Götter anthropomorph dachten. Diese Vorstellung führt Xenophanes geschickt ad absurdum, indem er den Anthropomorphismus in der analogen Übertragung auf das Tierreich beschreibt:
Wenn aber die Rinder und Pferde und Löwen Hände hätten
und mit diesen Händen malen könnten und Bildwerke schaffen wie Menschen,
so würden die Pferde die Götter abbilden und malen in der Gestalt von Pferden,
die Rinder in der von Rindern, und sie würden solche Statuen meißeln,
ihrer eigenen Körpergestalt entsprechend.
(DK 21 B 15, Übers. Mansfeld)
An diese hier nur kurz skizzierte Lehre der ionischen Naturphilosophen knüpft Jahrhunderte später ein gewisser Johannes an. Dieser Mann aus Galiläa, im Hauptberuf Fischer, schafft es im Prolog seines Evangeliums in geradezu erstaunlicher literarischer Schönheit, die Lehre seines Meisters Jesus den von griechischer Philosophie geprägten Menschen seiner Zeit zu vermitteln. Dort heißt es:
Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν, καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος. […]
πάντα δι ᾿ αὐτοῦ ἐγένετο, καὶ χωρὶς αὐτοῦ ἐγένετο οὐδὲ ἕν ὅ γέγονεν.
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. […]
Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.
(Joh 1,1-3, Nestle-Aland / Einheitsübersetzung)
Besser und klarer hätten es selbst Anaximander und Xenophanes nicht beschreiben können: Der Ursprung von allem (πάντα) ist der Logos, also Gott. Das hellenistische Ohr war sicherlich sofort begeistert oder alarmiert, wenn es schon im ersten Satz ἀρχή hörte: Ging es doch im Folgenden also um eine Ursprungsspekulation; zumindest stand dem Leser der philosophiegeschichtliche Kontext klar vor Augen.
Xenophanes blieb in seinem Schaffen – trotz seiner überzeugenden und geistreichen Argumente für einen einzigen Gott – naturwissenschaftlich korrekt, wenn er in einem Fragment, das bei Sextus Empiricus überliefert ist, sagt:
Klares hat freilich kein Mensch gesehen, und es wird auch keinen geben, der es gesehen hat hinsichtlich der Götter und aller Dinge, die ich erkläre.
Denn sogar wenn es einem in außerordentlichem Maße gelungen wäre, Vollkommenes zu sagen, würde er sich dessen trotzdem nicht bewußt sein: bei allen Dingen gibt es nur Annahme.
(DK 21 B 34, Übers. Mansfeld)
Während Xenophanes hier seine eigenen Thesen als philosophische Annahmen einstuft, ist sich der Evangelist Johannes hinsichtlich seiner These, dass im Anfang der göttliche Logos steht, gänzlich sicher. Wofür er dann auch ein selbsterlebtes, geschichtliches Ereignis nennt, nämlich die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus:
Καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο καὶ ἐσκήνωσεν ἐν ἡμῖν, καὶ ἐθεασάμεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ, δόξαν ὡς μονογενοῦς παρὰ πατρός, πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας.
Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.
(Joh 1,14, Nestle-Aland / Einheitsübersetzung)
Zum Abschluss dieser kleinen Suche nach der ἀρχή lässt sich gut ein Ausschnitt aus Goethes Faust zitieren. Faust kommt nach seinem berühmten Osterspaziergang aufgewühlt in sein Studierzimmer und es treibt ihn den Johannes-Prolog zu lesen:
Wir lernen das Überirdische schätzen,
Wir sehnen uns nach Offenbarung,
Die nirgends würdiger und schöner brennt
Als in dem Neuen Testament.
Mich drängts, den Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen.
Geschrieben steht: „Im Anfang war das Wort!“
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!
(Goethe, Faust 1224-1237)
Leider lässt die Aufdeckung des Pudels Kern dem Faust keine Gelegenheit mehr, weitere Bedeutungen des griechischen Wortes λόγος (wie z.B. auch Begründung, Vernunft usw.) auszuprobieren. Es lässt sich dazu feststellen, dass im Griechischen bei λόγος so viele verschiedene Bedeutungen und Konnotationen aufgerufen werden, dass eine rundum zufriedenstellende Übersetzung ins Deutsche nicht zu bewerkstelligen sein wird. In den Übersetzungen des Prologs findet man also λόγος entweder einfach als Logos oder mit Wort (wie es die lateinische Übersetzung mit verbum vorsieht) übersetzt wieder. (eum)